Wie Virtual Reality unseren Alltag verändern könnte
Apple lanciert in den USA eine Mixed-Reality-Brille. Und wie bei vielen Produkten, die das Unternehmen aus Cupertino auf den Markt gebracht hat, wird erwartet, dass auch dieses von den Konsumenten angenommen und eine grosse Verbreitung erreichen wird. Doch welche Dienste und Services könnten da auf die Gesellschaft zukommen? Und wie könnten diese den Alltag verändern? Das wollen wir auf einer gedanklichen Reise in die Zukunft erkunden.
Text: Jörg Jermann
Auf den 2. Februar hat Apple in den USA die Lancierung ihrer Vision Pro angekündigt (siehe auch: Hintergrund: Was wir über Apples Vision Pro und visionOS wissen | heise online). Es handelt sich dabei um eine Mixed-Reality-Brille, mit der sich Inhalte sowohl auf die reale Umgebung (Augmented Reality - AR) wie auch in einen rein digitalen Raum (Virtual Reality - VR) projizieren lassen. Wie in den Online-Medien zu lesen ist, ist diese Version zunächst für Entwickler gedacht. Experten gehen jedoch davon aus, dass Apple innerhalb der nächsten 1-2 Jahren auch (preisgünstigere) Modelle für einen breiten Konsumentenkreis auf den Markt bringen wird – und womöglich eine weitere Welle an Nutzungsveränderungen einleitet. Doch welche Veränderungen könnten das sein? Dazu wollen wir die unterschiedlichen Möglichkeiten von AR und VR näher beleuchten. Und wir wollen darüber nachdenken, inwiefern unser Mobilitätsverhalten davon betroffen sein könnte.
Augmented Reality (AR)
Betrachten wir zunächst mal die AR-Welt. Hier können Informationen in unsere Umgebung projiziert werden, die dann per Fingertipp aktiviert werden können. Im einfachsten Fall handelt es sich dabei um Zusatzinformationen zu bereits vorhandenen Informationen (z.B. detaillierte Informationen zu Zugverbindungen bei Bahnsteiganzeigen), im komplexeren Fall zeigt uns die Brille wie ein Navigationsgerät den Weg zu einem gewünschten Ziel. Aber auch viele nutzerspezifische Anwendungen sind denkbar. Beispielsweise räumliche Angaben und Routen zu hindernisfreien Wegen für mobilitätseingeschränkte Personen oder objektspezifische Fachanleitungen für die Reparatur von Maschinen oder Geräten. Im letztgenannten Bereich ist auch das grösste kommerzielle Potenzial auszumachen. Einerseits, wie erwähnt, als Assistent bei Facharbeiten, aber man kann sich einen solchen Einsatz auch sehr gut auf einer Baustelle vorstellen, indem dem Bauführer die zu erstellenden Objekte oder dem Elektroinstallateur die zu fräsenden Leitungen räumlich dargestellt werden. Der grosse Vorteil: Beide bräuchten keine Pläne, keine Bedienungsanleitungen mehr lesen. Oder noch weitergedacht: Auch das Lösen von Tickets, das Abrufen von Informationen über ein Gebäude oder einen Gesprächspartner sowie das Anschauen von Rezepten und deren Videos könnte in Zukunft alles entfallen.
Virtual Reality (VR)
In der VR-Welt kann alles noch weitergedacht werden, da hier Funktionen ohne konkreten Raumbezug aktivierbar sind. So kann man sich in komplett andere Welten entführen lassen. Verlockend der Gedanke, vor der Reisebuchung schon mal einen Eindruck vom Strand auf Hawaii gewinnen zu können. Oder man schaut «vor Ort» nach, welches Hotel, Restaurant, oder welcher Surfbrett-Ausrüster den eigenen Ansprüchen am besten gerecht wird. Aber die VR-Brille ersetzt auch das (andere) Surfen und ermöglicht einen während einer Zugfahrt einen virtuellen Rundgang durch ein Modegeschäft oder durch einen Detailhändler, so dass man vorab sondieren kann, welches Geschäft man dann auch wirklich besuchen möchte. Oder man kauft gerade über die VR-Brille online ein und lässt sich die Ware nach Hause liefern. Und natürlich ist überall möglich, ein Live-Konzert oder ein Kino-Film in 3D anzuschauen. Vielleicht müssen wir uns also daran gewöhnen, dass Zugsreisende künftig mit VR-Brille ein Fussballspiel verfolgen und dabei vergessen, dass der Torjubel auf den Plätzen links und rechts Irritationen auslöst.
Zahlreiche Geschäftsanwendungen
Aber VR besitzt nicht bloss in der Unterhaltung grosses Potenzial, sondern bietet auch zahlreiche Geschäftsanwendungen. So können sich zukünftige Hausbesitzer Architekturentwürfe und Inneneinrichtungen ihres Hauses oder ihrer Wohnung realitätsnah in einer 3D-Umgebung betrachten. Das wird heute schon im High-End-Bereich angeboten, aber mit der neuen Generation von VR-Brillen wird das massentauglich. Oder Besprechungen können mit VR viel umfassender stattfinden als heute mit den Möglichkeiten von Video-Konferenzen. Insbesondere workshopähnliche Formate sind so besser umsetzbar. Die Gesprächsrunde ist dabei sicht- und wahrnehmbar. Wie viele Firmen deshalb auf physische Meetings verzichten werden, bleibt abzuwarten. Denn eine Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen: Virtual Reality birgt die Gefahr, dass das physische Zusammensein noch weniger stattfindet und wir als Gesellschaft noch viel weniger interagieren als heute. Und das wäre doch nicht das Ziel einer neuen Technologie.
Und die Mobilität?
Besonders spannend für uns ist die Frage, inwiefern der Einsatz von VR das Mobilitätsverhalten verändern könnte. In einer Forschungsarbeit haben wir bereits festgestellt, dass VR das Potenzial hat, den Verkehr zu substituieren (ASTRA 2020). Virtuelle Realitäten ermöglichen es, das Ziel einer Fahrt oder einer Reise erleben zu lassen, ohne sich dorthin zu bewegen. Die Nutzung einer VR-Brille erlaubt es also, Mobilität auf ihren Zweck zu reduzieren, beispielsweise beim Einkaufen, bei einem Meeting oder auch bei einem Konzertbesuch. Mit VR kann man diese Tätigkeit ausführen, ohne dass sich tatsächlich dorthin begeben zu müssen. Wie weit diese Substitution geht, darüber streiten Experten noch. Aber wie bei so vielem, was die Digitalisierung hervorgebracht hat, wird es am Ende wohl auf eine Abwägung von Kosten und Nutzen hinauslaufen. Möchte ich ein einmaliges Live-Konzert von Bruce Springsteen in Berlin für 50 Franken in VR erleben, auch wenn das Feeling vielleicht nur zu 60% einem wirklichen Live-Erlebnis entspricht? Oder gönne ich mir den Flug, die Reise und den Eintritt für 600 Franken? Oder schaue ich mir das Konzert später kostenlos über einen Streaming-Dienst an? Die Auswirkungen auf den Verkehr sind je nach Entscheidung sehr unterschiedlich. Was wird sich durchsetzen? Wir wissen es nicht.