Ein Wasserschloss mit «Trockenregionen»
Der Klimawandel heizt auch dem Wasserreichtum in der Schweiz ein. Zwar sprudeln Grundwasser und Quellen selbst in Trockenzeiten munter weiter. Trotzdem sind saisonale Engpässe und Nutzungskonflikte zu erwarten, wenn die öffentliche Versorgungsinfrastruktur und das Trinkwassermanagement einiger Regionen nicht verbessert werden.
Text: Paul Knüsel, Stv. Chefredaktor TEC21
Auf die Ökosysteme ist an sich Verlass. Natürliche Kreisläufe streben zum Gleichgewicht und drehen sich daher in leicht vorhersehbaren Bahnen, wie zum Beispiel der Wasserhaushalt: Die Niederschläge, die jährlich als Regen, Schnee oder Hagel auf die Erde fallen, sind verblüffend konstant. Das hydrologische Jahrbuch der Schweiz rekonstruiert die Wetterbedingungen der letzten 400 Jahre; das durchschnittliche Niederschlagsvolumen variiert jeweils nur um 10 Prozent mehr oder weniger. Doch der statistische Blick auf die gesamte Epoche soll nicht trügen. Über kurze Frist kann sich die Natur unzuverlässig und äusserst überraschend verhalten. Die historischen Wetteraufzeichnungen geben 1701 als bislang regenreichstes Jahr an. Damals fiel fast dreimal so viel Wasser auf die Schweiz wie im Rekordtrockenjahr, genau ein halbes Jahrhundert später. Die Neuzeit nähert sich derweil dem Maximum an. Die vergangenen drei Jahrzehnte brachten die niederschlagsreichste Phase seit dem Spätmittelalter. Trotzdem warnen die Umweltbehörden nun vor der Verknappung der Ressource Wasser.
Sorgen macht man sich seit dem jüngsten Hitzejahr 2003. Der Regen blieb in mehreren Regionen der Schweiz auch 2007, 2011 und 2015 wochen- bis monatelang aus. Einige Orte waren auf die in kurzen Abständen folgenden Trockenphasen schlecht vorbereitet: 50 Tessiner Gemeinden, vom Raum Bellinzona bis in die südlichen Seitentäler, mussten ihre Trinkwasserversorgung improvisieren; von Januar bis Ende Oktober 2003 war frisches Wasser teilweise nur noch ab Tankwagen erhältlich. Im Jura trockneten zuletzt vor sechs Jahren Wasserquellen im Einzugsgebiet der Ajoie aus. Temporäre Wassernotstände erlitt auch der Thurgau: Zur Bewässerung von Gemüse- und Obstkulturen wurde ausnahmsweise Grundwasser hochgepumpt. Und die Wasserversorgung der Stadt Zürich half mehreren Dutzend Vorortsgemeinden zwischen Uster und Affoltern aus, weil deren Quellen im Sommer 2003 kurzzeitig versiegten.
Die Schweiz ist das Wasserschloss Europas; der Regen über den Bergen verteilt sich zusammen mit der Schnee- und Gletscherschmelze via Rhein, Rhone, Ticino und Inn über den ganzen Kontinent.
Grundwasserreservoire schwinden
Die Schweiz ist das Wasserschloss Europas; der Regen über den Bergen verteilt sich zusammen mit der Schnee- und Gletscherschmelze via Rhein, Rhone, Ticino und Inn über den ganzen Kontinent. Auch die eigenen Quellen und Grundwasserseen werden dadurch reichlich gefüllt. Die Ernüchterung in den jüngsten Trockenperioden war daher gross, dass diese Speicher nicht unendlich sind und vermeintlich zuverlässige Trinkwasserreservoire zwischenzeitlich schwinden. Viele betroffene Quellen liegen knapp unter der Oberfläche oder im zerklüfteten Karstgebiet, was sie besonders anfällig auf Schwankungen im Zufluss macht. Doch selbst im Mittelland, das das Wasser aus einem grossen Einzugsgebiet bezieht, sank der Grundwasserspiegel im Herbst 2003 auf einen historischen Tiefstand.
Klimaprognosen warnen vor zu viel und zu wenig Wasser. Zu den erwarteten, bekannten Folgen zählen häufigere Murgänge und Überschwemmungen – und nun auch die Aussicht auf temporäre Wasserknappheit. Um sich gegen die «zunehmende Sommertrockenheit» zu wappnen, ruft der Bund nun zur Vorsorge auf. Die Kantone haben sich mit den Veränderungen im regionalen Wasserkreislauf zu beschäftigen und die empfindlichen «Trockenregionen» aufzudecken.
Fallstudien und erste Hinweiskarten
An der Aufarbeitung ihrer Versorgungsprobleme sind nicht nur die Gewässerbehörden im Jura oder Thurgau interessiert. Viele weitere Regionen in der Deutschschweiz wollen sich einen Überblick über die möglichen Risiken und Empfindlichkeiten verschaffen. Eine Vorreiterrolle nehmen dabei die Urschweizer Kantone ein; in einem Pilotprojekt haben sie erstmals Hinweiskarten zur räumlichen Bestimmung der Wasserknappheit gezeichnet. Die weitläufige Voralpen- und Bergregion ist dazu in farbige Flächen eingeteilt. Das Muster reicht nicht, um Alarm zu schlagen: Die genutzten unterirdischen Wasserspeicher reichen generell aus; lokale Versorgungsengpässe können trotzdem auftreten, vor allem an peripheren Lagen. Analysiert worden ist ein Einzugsgebiet von der Stadt Luzern bis zum 150-Seelen-Bergdorf Realp mit knapp 300000 Einwohnern. Die 59 Gemeinden beziehen ihr Trinkwasser aus über 100 Versorgungsnetzen. Die Infrastruktur ist an vielen Orten isoliert; entlegene Gemeinden versorgen sich, auch aus topografischen Gründen, autonom.
Die Infrastruktur ist allerdings auch ausserhalb der Urschweiz weitgehend verzettelt; die Haushalte und Gewerbebetriebe werden von fast 3000 Versorgern mit Trinkwasser beliefert, mehr als es Gemeinden in der Schweiz gibt. Tatsächlich stossen die laufenden Klimaanalysen auf ein Problem, das bisweilen hausgemacht erscheint: Die typische Netzstruktur ist kleinräumig organisiert, und an vielen Orten fehlen redundante Ausweichsysteme, was die Versorgung empfindlich auf Änderungen bei Angebot und Nachfrage macht. Im Kontrast dazu können diejenigen Trinkwasserversorgungen regenfreie Phasen schadlos überstehen, die grosse und robuste Verbundnetze betreiben. Gewässerexperten empfehlen daher die Regionalisierung der Trinkwasserversorgung. Zudem ist jede Versorgungseinheit an zwei lokal unabhängige Quellen anzuschliessen. Obwohl die Trinkwasserversorgung eine föderalistische Aufgabe ist, bemüht sich der Bund um eine national übergeordnete Perspektive. Gemäss seinem Projekt «Sichere Wasserversorgung 2025» ist ein Ausbau der Wasserinfrastruktur an vielen Orten absehbar.
Allerdings kostet die Versorgungssicherheit schon heute eine Stange Geld: Pro Einwohner und Jahr werden rund 100 Franken vor allem für Erneuerungen investiert. Schätzungen gehen von einer Verdoppelung des Mittelbedarfs aus: Mittelfristig ist über eine Milliarde Franken pro Jahr für die Erweiterungen bereitzustellen. Diese Kosten werden die angeschlossenen Haushalte und Gewerbebetriebe tragen. Die Finanzierung ist verursachergerecht und kommunal organisiert.
War 2003 das Jahr, das die Wasserbehörden erstmals aufgerüttelt hat, ist seit 2014 eigentlich geklärt, wie die «Zukunftsstrategie zur Sicherung der Ressource Wasser» aussehen kann.
Nutzungsdruck verschärft die Verknappungsfrage
Vor vier Jahren wurde das Nationale Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz» abgeschlossen. Die zentrale Erkenntnis ist: Verknappt der Klimawandel die Wasserressourcen, verschärft der wachsende Nutzungsdruck das Versorgungsproblem. Im schlechtesten Fall sehen sich einige Regionen deshalb mit zwei neuen Aufgaben konfrontiert: Sie sollten sich zum einen den Überblick verschaffen, woher das Trinkwasser kommt und wie der regionale Wasserhaushalt funktioniert. Dafür ist das Einzugsgebiet, wo noch nicht passiert, geomorphologisch und hydrologisch zu inventarisieren. Zum anderen muss auch die regionale Nachfrage nach Trink- und Grundwasser umfassend erhoben werden.
Zwar wird in der Schweiz immer weniger Trinkwasser konsumiert; der Verbrauch nimmt gemäss Branchenverband SVGW (Schweizerischer Verband des Gas- und Wasserfachs) jährlich um fast ein Prozent ab. Doch in Trockenperioden schnellt er bisweilen auf das Doppelte hoch, zeigen die jüngsten Erfahrungen. Und in Notzeiten kommen zusätzliche Nachfrager dazu: So zapft die Landwirtschaft immer öfter Grund- und Trinkwasserreservoire an, um Äcker, Wiesland, Obstplantagen und Rebberge zu bewässern. Der Aufruf an Hitzetagen, Wasser zu sparen, ist für die Bevölkerung im Mittelland und in den Voralpen fast schon selbstverständlich geworden.
Ein Nutzungsclinch kann jedoch überall entstehen: Er droht in Tourismusgebieten, deren Wasserbedarf für das Beschneien von Skipisten steigt. Und er tritt in Agglomerationen auf, in denen das Siedlungswachstum bestehende Trinkwasserreservoire verdrängt. Beinahe jede zweite Gemeinde opfert Flächen für neue Überbauungen, die zuvor rechtlich verbindlich dem Schutz von Grundwasser oder Quellfassungen zugewiesen worden waren. Diesen Verdrängungseffekt hat das NFP 61 erstmals aufgedeckt. Obwohl Ersatzquellen und -reservoire in Siedlungsnähe kaum zu finden sind, wurde dieser Konflikt seither nirgends systematisch untersucht.
Zu stellen sind aber auch grundsätzlichere Fragen, um die Wasserzukunft nachhaltig zu sichern. Weil der Mensch den natürlichen Kreislauf mehrfach stört – unter anderem beeinflussen die Siedlungsentwässerung und die Abwasserreinigung das regionale Wasserregime wesentlich –, sind vertiefte hydrologische Raumanalysen erforderlich. Der Kanton Baselland ist bereits daran und hat erfahren, dass so viel zusätzliches Oberflächenwasser wie möglich an Ort und Stelle in den Untergrund versickern soll. Das Grundwasser benötigt grössere Zuflussmengen, damit die drohende Wasserknappheit verhindert werden kann. Als Massnahmen sind künstliche Filtrationsflächen entlang der Fliessgewässer oder die Dezentralisierung der Abwasserreinigung vorzusehen. Letztere widerspricht zwar der ökonomischen Logik und der aktuellen Praxis, aber nur so fliesst wieder mehr Wasser lokal in den Untergrund. Absehbar ist dennoch, dass die Versorgungssicherheit zur regionalen Angelegenheit werden wird. Aktuell empfiehlt und fördert das Bundesamt für Umwelt ein umfassendes «Wasserressourcenmanagement», das den Regionen zur Vorbereitung auf drohende Trockenperioden dienen soll. In solchen Pilotprojekten wird schliesslich evaluiert, ob und wie die bestehende Infrastruktur zur Wasserbewirtschaftung baulich und organisatorisch verbessert werden muss.
Seewassernutzung ist teuer
Aber wären nicht vor allem die grossen Seen die vermehrt erwünschten Trinkwasserpuffer? Tatsächlich haben Städte vor knapp 80 Jahren begonnen, das damalige Nachfragewachstum nach Trinkwasser mit Seewasser zu decken. Inzwischen beziehen nicht nur Luzern, Zürich oder Neuenburg weit über die Hälfte aus dem benachbarten See; schweizweit ist der Anteil an der Wassergewinnung auf 19 Prozent gestiegen. Doch der weitere Ausbau wird teuer; die hygienische Aufbereitung von Seewasser ist im Vergleich zu Grund- und Quellwasser bedeutend aufwendiger. Zudem hat der Hitzesommer 2003 die Seewasserversorger ebenfalls überrascht: Nicht die Menge war das Problem, doch der Sauerstoffgehalt ist im erwärmten Seewasser teilweise so weit gesunken, dass es zu Qualitätsmängeln kam.
Die Schweiz bleibt trotz Klimawandel und Gletscherschmelze ein Wasserschloss; der nasse Rohstoff wird deshalb kaum versiegen. Nicht einmal zwölf Prozent der jährlichen Niederschlagsmenge werden heute als Trink- oder Brauchwasser genutzt. Trotzdem ist auf die bisherige Wasserbilanz nurmehr bedingt Verlass.
Prognosen, wie sich das Niederschlagsregime saisonal und regional verändert, sind mit Unsicherheiten behaftet. Doch dass der Regen über Tage, Wochen oder Monate ausbleiben wird, dieser neuen Regel darf getrost vertraut werden.
Quellenhinweise und Tipps
- Bundesamt für Umwelt: Wasserressourcenmanagement mit Fallstudien
- Nationales Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz»
- Schweizerischer Verein des Gas- und Wasserfachs (SVGW)